Eingriff in die Hirnstruktur: die Lesefähigkeit ändert alles

Veränderung des Hirnstamms durch das Lesenlernen - die Rolle des Großhirns unbedeutender als bisher gedacht

Von Cornelia Scherpe
11. Juli 2017

Auch wenn es für viele Menschen in Industrienationen eine Selbstverständlichkeit geworden ist, gehört das Lesen aus rein evolutionärer Sicht zu den sehr jungen Menschheitsentwicklungen. Kulturell hat es uns weit vorangebracht, doch das Gehirn ist im Grunde gar nicht darauf ausgelegt.

Bisher gingen Hirnforscher deshalb davon aus, dass die Lesefähigkeit im Großhirn erworben wird. Dieser Teil ist evolutionär am jüngsten und passt sich daher den neuen Anforderungen an. Doch eine aktuelle Studie zeigt, dass die Antwort viel verblüffender ist.

Lesenlernen verändert den Hirnstamm

Die Wissenschaftler gingen nach Indien und führten dort ein Experiment mit Frauen zwischen 24 und 40 Jahren durch. Alle Teilnehmerinnen konnten ihre Muttersprache Hindi nicht lesen. Dieses Phänomen ist in Indien weit verbreitet, da den meisten Frauen bis heute der Zugang zum Schulwesen nicht möglich ist.

Die Hirnstruktur der Probandinnen wurde analysiert und ihnen danach Unterricht im Lesen ermöglicht. Bereits nach sechs Monaten hatten die Frauen das Leseniveau einer Erstklässlerin erreicht. Eine erneute Analyse der Hirnstruktur zeigte nun, wo sich das Gehirn verändert hatte: im Hirnstamm und im Zwischenhirn.

Der Hirnstamm ist nicht nur deutlich älter als das Großhirn, er ist der evolutionär älteste Bereich. Hier finden eigentlich instinktive Impulse wie Hunger, Atmung, Flucht etc. ihren Ursprung. Der Gedanke, dass sich der Hirnstamm durch neue Impulse aus der Umwelt verändert, war bislang eher abwegig.

Zusammenarbeit des Thalamus mit Seharealen

Neben dem Hirnstamm hatte sich auch der Thalamus, ein Bereich im Zwischenhirn, verändert. Das Aktivitätsmuster beider Bereiche war nun so gestaltet, dass sie enger mit den Seharealen zusammenarbeiteten. Das macht Sinn, da für das Erlernen von Schrift winzige Strichunterschiede erkannt werden müssen, damit ein Zeichen von anderen unterschieden werden kann.

Die neuen Erkenntnisse über die veränderte Hirnstruktur beim Lesen-lernen ist nicht nur für Menschheitsforscher interessant, sondern könnte auch zu einer besseren Verständnis von Lese-Rechtschreib-Störungen und Therapiemöglichkeiten führen.